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Der Sozialstaat als Ergebnis des politischen Prozeßes

Am Ursprung stand die soziale Frage




Pascal Mahon, Professor  für Staatsrecht, Uni Neuenburg
Neue Zürcher Zeitung, 35, 2009


"... Mit dem Begriff "Sozialstaat" oder "Wohlfahrtsstaat" ("Etat social" oder "Etat providence" im Französischen, "Welfare State" im Englischen) wird im heutigen Sprachgebrauch die Gesamtheit der Normen, Institutionen und Regulierungs- me- chanismen verbunden, welche im liberalen, marktwirtschaftlich ausgerichteten Staat Risiken minimieren und ausgleichen. Es handelt sich einerseits um Risiken des täglichen Lebens und andererseits um Risiken des wirtschaftlichen Systems.
Am Ursprung dessen, was man heute als "Sozialstaat bezeichnet, steht die  im 19. Jahrhundert auftauchende soziale Frage. (Foto: Industrieanlagen der Fa. Krupp)



 Die sprunghaft wachsende Industralisierung führte damals zur weiten Verbrei- tung einer neuen Produktionsweise, der Lohnarbeit, und zur Herausbildung  einer neuen sozialen Schicht, des "Proleta-riats". Der aus den Revolutionen Ende des 18. Jahrhundert hervorgegangene liberale Rechtsstaat, manchmal auch "liberaler Nachtwächterstaat" genannt, hatte als einzige Aufgabe, die wirtschaftliche Freiheit und das Recht auf Eigentum zu ga- rantieren. Dieser liberale Rechtsstaat war jedoch kaum in der Lage, sich des Schicksals der Menschen dieser neuen sozialen Schicht anzunehmen. Zudem war er kaum darauf vorbereitet,  die Konsequenzen der massiven Industrialisierung zu tragen.  Das Unvermögen ließ einen Klassen- konflikt  entstehen, der sich in der sogenannten sozialen Frage manifestierte und zur Geburtsstunde der sozialen Be- wegungen, der Gewerkschaften, dr Arbeiter
parteien usw. wurde.



Allmählich gewann der Staat durch die soziale Frage eine neue Dimension hinzu. Nebst seiner traditionellen repressiven bzw. polizeilichen Funktion (Polizeistaat), die vornehmlich daraus bestanden hatte, die freie Entfaltung Entwicklung der Marktwirtschaft zu ermöglichen, hat man dem Staat nun eine Schutzfunktion gegen Risiken des täglichen Lebens zuerkannt. Dazu zählten insbesondere der Schutz bei Erwerbsausfall wegen Arbeitslosigkeit, wegen des Wegfalls von unterstützungspflichtigen Personen (der Eltern oder des Ehepartners) und die Unterstützung bei dadurch verursachter Armut. Unter dem Einfluß Bismarcks fand ab dem Ende des 19. Jahrhunderts das Institut der Sozialversicherung Eingang in die europäischen Rechtsordnungen. Diese erhielten allmählich einen sozialen Anstrich. Dies bedeutete eine Sozialisierung der Gesellschaft. Das ursprüngliche Ziel war es, den sozialen Frieden zu garantieren und nebenbei den wachsenden Einfluß der Linksparteien den Nährboden zu entziehen. Das scheint heute manchmal vergessen zu gehen.


 










Der Sozialstaat hat am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunächst eine eher langsame und unstete Entwicklung genommen. Sie war gepräget sowohl von Fortschritten als auch von Widerständen, etwa vom Kampf gegen Armut und Elend, verursacht durch den Ersten Weltkrieg oder durch die Wirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit, aber auch von der Stärkung der Linksparteien (insbesondere infolge der Einführung der Proporzwahl). (Foto: Australische Arbeiterbewegung)




Vor allem die Weltwirtschaftkrise der 1920er und 1930er Jahre gab der Idee des Sozialstaats neuen Anstrich. Gleichzeitig verbreitete sich ein neues, nicht mehr kausales, sondern universelles und finales Modell, das sich insbesondere in der keynesianischen Politik des New Deal des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt (siehe zeitgenössiche Karrikaturen oben) und im  britishen Beveridge- Plan von 1942 konkretisierte. Am Ende des Zweiten Weltkrieges setzte sich der Begriff Sozialstaat endgültig durch... Er ist z. B. im Artikel 20 Absatz 1 des deut- schen Grundgesetzes verankert, der aus der Deutschen Bundesrepublik einen "de- mokratischen und sozialen Bundesstaat" macht.

Die Idee des Sozialstaats erlebte durch das starke wirtschaftliche Wachstum wäh- rend der Jahre des Wirtschaftswunders eine weite Verbreitung. Heute sorgt der Staat für soziale Gerechtigkeit und übernimmt die Funktion des Ausgleichs und im bestimmten Rahmen der Umverteilung der Einkommen. Er fördert die persönliche Entwicklung des Einzelnen, schafft Bedingungen, die es diesem ermöglichen, von seier Arbeit zu leben. Er garantiert Versicherungsschutz gegen Risiken des täg- lichen Lebens wie Alter, Krankheit, Unfälle, Arbeitslosigkeit, Invalidität oder Aus- fall von unterstützungspflichtigen Personen. Weiter sorgt er dafür, daß jeder be- dürftigen Person ein Minimum an sozialer Sicherung gewährleistet ist, so daß sie ein menschenwürdiges Leben führen kann...

 


 



Dabei sind weder der Sozialstaat an sich noch sein Einflußbereich, noch seine Spielregeln oder seien Grenzen a priori festgelegt. Er ist das Resultat eines dy- namischen Prozeßes und hinsichtlich seiner Finanzierung eng mit der wirt- schaftlichen Entwicklung verbunden. Der Sozialstaat ist das Ergebnis eines poli- tischen Prozeßes innerhalb der Gesellschaft, von der er getragen werden muß und mit der er in Interaktion steht. Es erstaunt daher nicht, daß das Maß an sozialem Schutz, die Höhe der verkraftbaren Finanzierung und das zu erreichende Gleich- gewicht zwischen sozialer Sicherheit und individueller Verantwortung, ja daß der Sozialstaat selbst Objekt politischer Diskussionen und Kontroversen ist. Nichts- destoweniger wäre es aber sinnvoll, in Zeiten, in denen Zweifel hinsichtlich der Wirksamkeit des ökonomischen Laisser-fairre aufkommen, sich an die Ursprünge und Grundlagen des Sozialstaates zu erinnern.