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Mein chauvinistisches Ohr

Über die moralische Verwahrlosung des öffentlichen Raums

von Dubravka Ugresic

Neue Zürcher Zeitung, 302, 2008, aus dem Kroatischen von Mirjana und Klaus Wittmann. (Auszug)

Die Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit ist  unscharf ge- worden in einer Zeit, die ungeniert nach Selbstverwirklichung drängt. Wo dem Einzelnen unter dem Eindruck der Beoabachtet- werdens einst die Kontrolle der persönlichen Gefühle auferlegt war, droht sich dies heute ins Gegenteil zu verkehren. Die Straße gerät zur Bühne des eigenen Selbst - die Freiheit, die sich einer herausnimmt, wird zur Unfreiheit der anderen.

Er maschiert auf mich zu wie ein Soldat in voller Kriegsausrüstung, schreitet ent- schlossen auf einer imaginären Geraden, auf dem Rücken ein Rucksack, die Ohren mit einem iPod verstopft. Seine Sonnenbrille macht jeden Blickkontakt unmöglich. Den Körper benutzt er als unsichtbaren Pflug, alles wie Schnee vor sich wegräu- mend. Ich trete unterwürfig zur Seite. Immer mehr Leute benutzen im öffentlichen Raum ihren Körpeer als Schneepflug. Und immer bin ich derjenige, die zur Seite weicht. Während ich an der Kasse eines Lebensmittelgeschäfts Schlange stehe, bohrt sich wie ein plötzlicher Schmerz der Ruf eines Muezzins in mein Ohr. Ich dre- he mich um und erblicke eine zierliche junge Frau in einem langen Jeansrock, hell- blaue, paillettenbesetzte Flip-Flops an den Füßen, auf dem Kopf ein Tuch. Sie nimmt ihr Mobiltelefon aus der Handtasche und drückt darauf herum. Vielleicht mahnt das Handy sie, daß es Zeit ist fürs Gebet, denke ich versöhnlich. Auch mein Ohr ist inzwischen versöhnt. Dann aber wird es von einem neuen Geräusch durch- bohrt: Eine junge Chinesin in der Schlange kreischt etwas Unverständliches in ihr Handy. wie sich die durchdringenden Stimmen junger Chinesinnen und junger Ma- rokkaner doch ähneln, denke ich. Verschämt wische ich diesen Gedanken beiseite. Ich schwöre, das war nicht ich, daß war mein Ohr, gebildet in einer Gegend, in der das hohe C nie besonders geschätzt wurde. Ein chauvinistisches Ohr!



Auf der Straße begegne ich immer öfter singenden Radfahrern. Sie treten in die Pedale und trällern vor sich hin. Das ist etwas Neues, dieses Zurschaustellen von Gelassenheit, diese öffentliche Eroberung des persönlichen Freiraums. Mein Ohr ist gereizt, an so etwas nicht gewöhnt, intolerant. Mein Ohr ist ein widerlicher control freak. Während ich in einer Gaststätte mit Seeblick auf meinen Kaffee warte, bleibt mein Blick an einem jungen Paar am Nebentisch hängen. Die junge Frau mit langem blonden Haar hat ihre Füße lässig auf den Tisch gelegt, direkt neben eine Suppenterrine. Der junge Mann massiert mit einer Hand zärtlich ihre Zehen, mit der anderen löffelt er seine Suppe. Die Frau kichert ausgelassen und versucht, mit den Zehen seine Suppenterrine umzukippen. Der Anblick der nak- kten Füße auf der Tischplatte erreckt mir leichten Ekel. Mein Auge ist menschen- feindlich. Die Szene am Nebentisch läßt sich nicht mit einer unsichtbaren Fern- bedienung ausschalten - wie ich es in Gedanken wünsche -, deshalb stehe ich auf und verlasse geschlagen den Ort. (Foto: Debravka Ugresic, 1949 geboren, gehört zu den führenden kroatischen Schriftstellern. Sie lebt in Amsterdam. Soeben ist im Berlin-Verlag ihr neuer Roman "Baba Jaga legt ein Ei" erschienen/nzz)


Die Aufzüge der U-Bahn-Stationen, die zu den Zügen führen, hauptsächlich von Müttern mit Kinderwagen, älteren Menschen und Menschen mit Fahrrädern be- nötigt, sind immer vollgespuckt und vollgepisst. Männer benutzen sie als öffent- liche Toiletten und Spucknäpfe. Während ich zu den Zügen fahre, muß ich die Nase mit der Hand oder mit dem Schal bedecken. Der Gestank ist unerträglich. Schuld daran ist allein meine Nase. Meine verdammte Nase ist elitär.

Sobald sie in der Straßenbahn einen Sitzplatz ergattern, holen die jungen Frauen ihre Schminktäschchen hervor und machen sich für den Tag zurecht. Alles ist da: der Eyeliner, die Mascara, die kleine Nagelfeile, der Nagellack, die Pinzette. Wa- rum schminken sich junge Frauen ausgerechnet in der Straßenbahn? Wenn sie das schon im öffentlichen Raum erledigen müssen, warum nicht in einer öffentlichen Toilette oder auf eine Parkbank?!

Während ich am Straßenrand stehe, wirft ein Radfahrer leere Pizzaschachteln in eine nicht existierende Mülltonne. Eine Schachtel verpaßt meine Kopf nur um we- nige Zentimeter. He! - schreie ich, aber es kommt zu keinem Kontakt. Der Typ radelt schnell aus meinem Blickfeld...


In den Straßen- und U-Bahnen sind die Sitze meistens von männlichen Jugend- lichen okkupiert. Ältere Menschen stehen demütig. Der öffentliche Raum ist Schauplatz des latenten Sadomasochismus. Die Stärkeren setzen ihr Recht durch, die Schwächeren ducken sich. Vor meinem Lebensmittelgeschäft steht seit Mona- ten ein unsympathischer Dreißigjähriger und spielt auf seiner Gitarre. Der Typ ist total unmusikalisch, offenbar kann er überhaupt nicht Gitarre spielen, mit einem Wort, er klimpert. Er will dadurch nur auf sich aufmerksam machen und einen da- zu bringen, eine Münze in seinen Hut zu werfen...


Ich besteige ein Taxi. Der Fahrer, ein Muslim, verrichtet während der Fahrt sein Gebet. Mit einem Büchlein in der Hand murmelt er es herunter. Gelegentlich un- terbricht er das Gebet, wenn er bremsen oder die Ampel beachten muß. Seine monotone Leier stört mein gottloses Ohr, aber ich ertrage mit Fassung die Situa- tion, in die ich geraten bin. Beim Verlassen des Taxis reiche ich ihm einen großen Schein, denn ich habe kein Kleingeld. "Wieviel Tringeld bekomme ich?", fragt der Fahrer. Das demütige religiöse Brabbeln von vorhin galt Gott, dieser drohende Ton mit. Den Geldschein hält er schon in der Hand, ein Verhandeln ist also nicht mehr möglich, denn er könnte Gas geben und mit dem ganzen Geld abhauen. Ich ent- scheide mich für ein großzügiges Trinkgeld, um den Rest zu retten.

Der öffentliche Raum mit seinen geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen ist heute dazu da, die persönliche Freiheit zur Schau zu stellen. Altmodische Benimm- regeln gelten nicht mehr, Schilder mit der Aufschrift "Spucken verboten", die frü- her wegen ihres absurden Inhalts die Leute zum Lachen brachten, sind längst ver- schwunden. Heute spucken viele auf den Boden, markieren den Raum mit ihrer Spucke, mit ihrem Urin, mit ihren Leibern, mit ihren Stimmen. Niemand will mehr unbemerkt bleiben. Jeder kämpft um seine Rechte und pfeift auf die anderen...