~~ CHRISTLICH - SOZIALE POSITION ~~ ~~~ ~~~ INITIATIVE MENSCH & ARBEIT ~~~~~~~~~~~~~


Hugues Félicité Robert de Lamennais

19. 6. 1782 - 27. 2. 1854

~ Hans Maier: Lamennais (1959) ~

"... Geboren als Sohn einer großbürgerlichen Familie in Saint-Malo am 29. Juni 1872, früh hervortretend durch journalistische und wissenschaftliche Arbeiten, zum Priester bestimmt und geweiht im Alter von dreiunddreißig Jahren, hat sich Félicité Robert de La Mennais vor allem durch den monumentalen Essai sur l'indifférence en matiére de religion einen Namen gemacht, dessen erster Band 1817 erschien. Das Buch war Lemennais' persönliche Antwort auf die Aufklä- rungsphilosophie und die französische Revolution; es gab darüber hinaus der traditionlistischen Bewegung die lange vermißte und gesuchte theologische Basis. Dementsprechend rief es im französischen Katholizismus begeisterte Zustimmung hervor. Nach de Maistre, der das Christentum politisch, nach Chateaubriand, der es ästhetisch gerechtfertigt hatte, schien Lamennais nun den philosophischen Beweis für seine Wahrheit zu erbringen, zugleich ausholend zu einem massiven Angriff auf die rationalistische Schulphilosophie und die von ihr beeinflußte Apo- logetik. Zwar zeigte sich, je mehr das Werk fortschritt, wie wenig Lamennais im Grunde dem auf die Autorität der Vernunft gegründeten cartesischen Denken un- treu geworden war: indem er die Wahrheit des Christentums statt an die Meinung der Einzelvernunft an das Urteil der Menschheit im ganzen, an die geschichtliche Erprobung durch Zeit und Dauer knüpfte, behielt die raison générale auch in seinem System die höchste richterliche Stellung. Dadurch jedoch, daß er die Ver- nunft nicht als individuelles Vermögen faßte, sondern als historischen Prozeß, unterschied er sich grundlegend von seine apologetischen Vorgängern aus der Auf- klärungszeit; und eben diese Haltung ließ ihn im Urteil der Zeitgenossen als den großen Gegner der Aufklärung erscheinen... (Saint Malo)

"Was Lamennais mit Pascal verbindet, ist die Leidenschaft, mit der sich ein genuin christlicher Geist der Mittel des zeitgenössischen Denkens bemächtigt, um daraus auch den unbeteiligten, ja areligiösen Gesprächspartner zwingende Waffe zu schmieden - und nicht zuletzt die ausfahrende Heftigkeit, die trotzig-selbstgewisse Haltung gegenüber dem, was er verteidigt..." (Maier)"

... Der Erste Band des Essai hatte Lamennais in kurzer Zeit berühmt gemacht. Der zweite stieß bereits auf Widerspruch, weniger wegen der apologetischen Tenden- zen, die Lamennais verfocht, als wegen der philosophischen Vorausssetzungen, auf die er sie stützte. Lamennais appelierte, getreu der traditionalistischen Doktrin, vom Einzelgewissen an den sens commun der Menschheit; er verankerte den Wahrheitsbeweis des Christentums in einen consensus omnium, der seine Inter- pretation im unfehlbaren Lehramt der Kirche finden sollte. Ein ähnliches Verfah- ren hatten auch zeitgenössische Theologen wie Hermes und Bautain gewählt, und in der Apologetik hatte der historische Beweis seit jeher seine Stelle. Bei Lamennais jedoch traten die sprengenden Folgerungen, die in dem theologischen Rekurs auf die Historie lagen, sogleich hervor. Indem er in großartigem Integralismus die kirchliche Weisungsgewalt ausdehnte und auf die ganze Breite des politischen und sozialen Lebens, zog er eben vor der aufklärerischen Kritik gerettete Wahrheit des Christentums erneut in den Strom des geschichtlichen Werdens hinein. Damit war der Streit entbrannt, der Lamennais' ganzes Leben bestimmen sollte: hatte die Kir- che die Pflicht, sich zur Führerin der großen geschichtlichen Bewegungen zu ma- chen, oder stand sie in einer unabhängigen Haltung über ihnen, gleichweit entfernt von der Dogmatisierung tradioneller Staatsformen wie vom Überschwang eines demokratischen Spiritalismus? Sollte sie aktiv in die Geschichte eingreifen oder sich mit der Rolle des passiven Zuschauers, des Pilgers begnügen?...


"... In der Einsamkeit seines Landsitzes La Chenaie in der Bretagne hatte Lamennais einen Kreis von Jüngern um sich geschart, Priester und Laien, die der Elite des jungen katholischen  Frankreich angehörten. Sie bildeten den Kern einer künftigen Schule, der école mennaisienne. Wir finden unter ihnen Lacordaire, den späteren Neubegründer des Dominikanerordens in Frankreich, Gerbet und La Morvonnaise, die in der katholischen Sozialbewegung eine bedeutende Rolle spielen sollten, und den junden Montalembert, der nach 1830 zum Führer des politischen Katholizis- mus in Frankreich aufstieg... Die école mennaisienne nahm ständig an Bedeutung zu; sie war bereits eine starke öffentliche Macht, als im Juli 1830 der von Lamen- nais prophezeite Sturz der Bourbonen eintrat und den katholisch-liberalen Ideen ein unerwartetes Echo verschaffte...




Lacordaire

 

La Morvonnais

Lamennais gründete die Zeitschrift Avenir, die unter der Devise Dieu et liberaté erschien; in ihr trat er, unterstützt von Lacordaire und Montalembert, für eine Zusammenarbeit von Katholiken und Liberalen ein. Wichtiger als diese politische Wendung, die vor allem taktische Gründe hatte, war jedoch die Tatsache, daß der Avenir als erstes politisches Organ des modernen Katholizismus, die neue Situation der Kirche in der nachrevolutionären Zeit systematisch untersuchte und dabei Verhaltensmaßregeln entwickelte, die für eine ganze Generation des liberalen Katholizismus bestimmend wurden . Mit Recht hat Gurian die Zeitschrift daher als "das bis heute bedeutsamste katholische Presseorgan" bezeichnen können.


Der Avenir behandelte in seinen Spalten eine Vielzahl von religiösen und staats- theoretischen Fragen. Sucht man seine von verschiedenen Verfassern stammenden Aufsätze nach ihrem Hauptinhalt zu ordnen, so treten drei sich überschneidende Gedankenkreise hervor. Der eine ist philosophisch-religiöser Natur und völlig durch Lamennais' Verfasserschaft geprägt; in ihm geht vor allem  um die Neube- gründung und  -befestigung des Christentums in der nachrevolutionären Welt. Der zweite hat hauptsächlich kirchenpolitische Fragen zum Inhalt; er handelt vom Ver- hältnis von Staat und Kirche, vom Konkordat, der staatlichen Schulaufsicht und ähnlichen Dingen; hier nehmen neben Lamennais auch verschiedene andere gei- stliche Mitarbeiter, vor allem Lacordaire, das Wort. Der dritte endlich stößt von den religiösen Grundlagen  vor in das Gebiet der praktischen Politik; hier treffen wir den dritten Namen aus dem Triumvirat des Avenir: den des jungen Monta-lembert... Soweit sich hier die Gedanken thematisch einordnen lassen, tritt ein


doppelter zug hervor: einerseits eine liberale Revolutionskritik mit der Spitze ge- gen den Atomismus der modernen Demokratie; andererseits eine pessimistische Betrachtung der sozialen Zustände der Zeit, die sich vom Liberalismus bereits wieder loslöst. Liberal ist die Stellung gegen den Sog der politischen Zentrali- sierung, das Eintreten für gemeindschaftliche Selbstverwaltung und Stärkung der persönlichen Initiative, die Betonung der natürlichen Gemeinschaften im Raum zwischen Individuum und Staat, alles Züge, die der Avenir mit dem älteren, noch konservativ getönten Liberalismus teilt. Hier wirkt, besonders nach den Arbeiten Montalemberts, das englische Vorbild nach. Aus der konservativen Kritik am Staat der atomisierten Inidividuen ergibt sich aber auch mit innerer Notwendigkeit eine neue Einschätzung des Sozialen, der wiederum die liberalen Anschauungen weit hinter sich läßt. Wenn im Avenir die Volksrechte als allgemeine Menschenrechte angesehen werden, wenn das demokratische Prinzip der Selbstbestimmung eine bereits selbstverständlich gewordenen Geltung beansprucht, so liegen darin auch die sozial weitreichendsten Konsequenzen. Sie hatten sich in Belgien und Irland bereits vor 1830 in revolutionäre Formen abgezeichnet; ganz sichtbar sollten sie dann 1848 hervortreten, als die Zensusdemokratie des Bürgertums sich in die demokratische Herrschaft aller verwandelte und die Revolution erstmals auch so- ziale Rechte in den Katalog der Menschenrechte aufnahm.

Es war vor allem diese dritte Seite, die den heftigen Unwillen der konservativen Regierungen Europas herausforderte und den Avenir in den Ruf brachte, ein revolutionäres und demagogisches Blatt zu sein. "L'Avenir confond l'egalité sociale avéc l'egalité évangélique", schrieb Metternich an den österreichischen Botschaf- ter in Rom; "il défend les théories les plus subversives de l'ordre social avec la meme chaleur avec laquelle il defénd la hiérachie de l'Èglise." Der Interventation des österreichischen Staatskanzlers in Rom ist, wie Luise Ahrens gegen die ältere, von Dudon vertretene Meinung, glaubhaft nachgewiesen hat, ein wesentlicher An- teil an der späteren Verurteilung des Avenir durch den heiligen Stuhl zuzuschrei- ben. Daß Lamennais' Ideen in Irland, Belgien, Italien und Polen ein großen Echo fanden, in Ländern also, in denen sich die nationale Bewegung zum Teil auf katholische Traditionen stützte, war gleichfalls nicht geeignet, das Mißtrauen der Regierungen zu vermindern. In Deutschland hat Lamennais trotz zeitweiliger Wirkung seiner politischen Ideen (besonders im Rheinland) nur bei Franz von Baa- der tieferes Verständnis gefunden: "Das Senfkörnlein (Avenir)  hat doch einmal mitten im Urbrei der aufgelösten Sozietät mit seinen Infusorien frische Wurzel wieder gefaßt und wird fortwachsen."... (Quelle: Hans Maier /unten mit Ratzinger/, Katholizismus und Demokratie 1, Herder, 1983)